Essay: Algorithmus und Cyborg sind Kinder derselben Idee

von Marian Freistühler
I
Das Web hat zuletzt zahlreiche Negativschlagzeilen gemacht, weil es als Instrument der Datensammlung über Mitglieder einer Gesellschaft sowohl von staatlichen Institutionen als auch von marktwirtschaftlich agierenden Unternehmen missbraucht wird. Das geflügelte Wort vom nie vergessenden Internet ist noch zu selten mit dem vom gläsernen Menschen in Verbindung gebracht worden. Der sich regende Widerstand hält sich in überschaubaren Grenzen, was vermeintlich nicht zuletzt der Grenzenlosigkeit des Mediums geschuldet ist, der Ungreifbarkeit.

II
Die über die Mitglieder der Gesellschaft gesammelten Daten sind nur deshalb in diesem Umfang zu sammeln, weil das Nutzungsverhalten der Individuen dies zulässt bzw. fördert. Die Cloud wird von den Nutzern selbst mit Daten über sich selbst und befreundete Nutzer versorgt, ein sorgfältiges Filtern der eigenen, der (begrenzten) Öffentlichkeit zugänglich gemachten Daten scheint weitgehend auszubleiben. Wenn, dann ist Filterung in der breiten Masse als Strategie der Selbstpräsentation erkennbar, d.h. solche Daten werden besonders bereitwillig zur Verfügung gestellt, die mit persönlichem Stolz zusammenhängen. Hier liegen Auswirkungen auf das Offline-Verhalten in der Hinsicht nahe, dass es in der Hoffnung auf die Erstellung mit Stolz verbundener Datensätze gelebt wird. Das Private wird also nicht nur im Nachhinein öffentlich, sondern die präsupponierte Öffentlichkeit bedingt das Private. Jeder ist zum Geschichtenerzähler geworden und will eine möglichst gute Geschichte (was ist eine gute Geschichte?) erzählen, in der er oder sie in der Regel selbst die Rolle des Helden übernimmt.

III
Es scheint also vielmehr eine Affinität gegenüber der Ansammlung von Daten zu herrschen als eine Skepsis. Nicht nur Dritte sammeln Daten über Individuen, sondern diese sammeln ebenso selbst Daten über sich. Die Plattformen erleichtern und fördern als Software die komplexe Organisation der zahlreichen Daten (à la Chronik). Hier kommt die unterschiedliche Qualität der gesammelten Daten ins Spiel. Während sich das Individuum vornehmlich um generierte Inhalte kümmert, sind Dritte vielmehr auf Meta-Daten aus, auf grundsätzliche Charakteristika der generierten Daten also, die zur Analyse von Verhaltensmustern und Beziehungen zu anderen Nutzern dienen.
In aktuellsten Bewegungen wie denen des Quantified-Self kommt nun das erstaunliche Interesse des Individuums an diesen Meta-Daten zum Ausdruck. Im Hintergrund des alltäglichen Lebens werden quantifizierende Daten über den eigenen Körper, das eigene Verhalten gesammelt, die in der Analyse die Perspektive eines Dritten auf das eigene Verhalten ermöglichen. Es wurde objektiv messbar aufgezeichnet und ist somit frei von jeder subjektiven Verklärung. Sie sagen einem, wie man wirklich ist.

IV
Wozu führt die Analyse dieser Daten? Sie vergewissern im positivistischen Sinne von Existenz (was bei Descartes noch über den Geist funktionierte), sind aber erst von realer Bedeutung, wenn sie Handlungen zur Folge haben. Wenn sie nicht mehr nur Handlungen aufzeichnen, sondern bedingen, eine Verhaltensänderung möglich machen, die immer eine Optimierung zum Ziel hat. Das Risiko menschlichen Versagens wird demzufolge minimiert. Eine solche Handlungsausführung nach der Analyse eines Sachverhaltes entspricht der Definition des Algorithmus als Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems mit einer endlichen Anzahl von Einzelschritten. Die individuelle Subjektivität wird der Objektivität von Daten unterstellt. Du bist, was du tust. Handlungen werden wichtiger und damit der handelnde Körper.

V
Der nächste logische Schritt im Sinne einer Optimierung ist der Verzicht auf die Schnittstelle der eigenen Beurteilung der Daten. Noch sind es externe Geräte, die in enger Verbindung mit dem Körper stehen, um Daten über ihn zu sammeln. In Einzelfällen sind sie bereits intern. Die Auswertung und Analyse der Daten durch den Nutzer der Technik selbst scheint dann überflüssig, wenn der Körper auch mit technischen Gerätschaften ausgestattet ist, die aufgrund der Datenanalyse unmittelbar Verbesserungen vorschlagen oder bereits selbst vornehmen.
Nun ist der Cyborg geboren – nach der Affinität zur Datensammlung, dem Streben zur Optimierung und dem Daten auswertenden Algorithmus. Cyborg und Algorithmus sind Kinder derselben Idee.

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